DIE GERADE LINIE FÜHRT ZUM UNTERGANG
Laudatio anlässlich der Vernissage von Christine K. Krämer im Stadtmuseum am 24. März 2023.
Anlässlich seiner ersten Ausstellung in Paris 1954 schrieb Friedensreich Hundertwasser:
„Ich wage zu sagen, dass die Linie, die ich mit meinen Füßen ziehe, um ins Museum zu gehen, wichtiger ist als die Linien, die man innen im Museum auf Bildern aufhängt, vorfindet. Und ich habe eine unendliche Genugtuung, wenn ich sehe, dass diese Linie niemals gerade und niemals wirr ist, sondern dass sie ihre Berechtigung hat, so zu sein, wie sie ist, in jedem kleinsten Teilabschnitt. Hütet euch vor der geraden und vor der betrunkenen Linie. Aber besonders vor der geraden Linie. Die gerade Linie führt zum Untergang der Menschheit.“
Als ich mich vor einigen Wochen mit Christine Katharina Krämer über ihre Ausstellung hier im Stadtmuseum unterhielt, sagte sie, eher nebenbei, aber doch ganz entschieden: „Es gibt nicht eine gerade Linie in meinen Bildern.“
Ich bezweifle, dass sie dabei Hundertwassers Diktum von der „geraden Linie“ im Sinn hatte und ich glaube auch nicht, dass sich Christine Katharina Krämer jedes Mal, bevor sie die Arbeit an einem Bild beginnt, wie ein Mantra aufsagt: „Ich darf jetzt um Gotteswillen keine geraden Linien malen“ – noch glaube ich, dass Hundertwasser das je getan hat. Es scheint mir viel mehr so zu sein, dass der künstlerische Schaffensprozess die gerade Linie hier vielleicht von vornherein ausschließt. Warum das so ist, ist dem Künstler selbst oft überhaupt nicht zugänglich.
Denn bei der Erschaffung eines Kunstwerks, egal welcher Art, spielt das Unter- und das Unbewusste immer eine wichtige Rolle, Sigmund Freud meinte sogar, die entscheidende Rolle. Das Kunstwerk kann also mehr über den Urheber erzählen, als der Urheber über das Werk. Daher kommt es übrigens auch, dass der Künstler selbst nicht immer automatisch auch der beste Interpret seines eigenen Werkes ist, weil ihm nämlich die tieferen Quellen, aus denen er schöpft, gar nicht bewusst sind.
Von dem französischen Maler Georges Braque stammt die Feststellung: “Man muss sich mit dem Entdecken begnügen und auf das Erklären verzichten. In der Kunst zählt nur eines: das, was man nicht erklären kann.“
Ich weiß, dass das immer wieder Menschen frustriert, die ratlos vor einem Bild, einer Skulptur, auch vor einem Stück Literatur oder Musik stehen und fragen: Was soll das alles sein? Was bedeutet das? Und sich dann eben eine Erklärung wünschen, nur: Ein Kunstwerk, das von seinem Urheber komplett auserklärt und gedeutet werden kann, hört im Grunde genommen auf, überhaupt Kunst zu sein. Denn Kunst lebt immer von Interpretationsspielräumen, von Widersprüchen, Ambivalenzen, ja sogar vom Nichtverstehen, vom Rätselhaften.
Deshalb gibt es ja auch viele bildende Künstler, die sich der Erklärung ihres eigenen Werks sowieso komplett verweigern.
Nun sind wir als Menschen aber auch soziale Wesen und aufeinander bezogen und wenn wir ein Bild ansehen, denken wir auch an die Person, die es hervorgebracht hat und versuchen, diese Person in Bezug zu ihrem Werk zu setzen. Hier ist es dann erfreulich, wenn man auf eine Künstlerin wie Christine Krämer trifft, die Auskunft gibt über ihre Kunst und ihren Schaffensprozess.
Jeder Künstler benötigt ein gewisses Quantum an Sensibilität. Bei Christine kommt allerdings noch ihre synästhetische Wahrnehmung hinzu, die sich auf den Schaffensprozess auswirkt. Synästhesie heißt, dass nicht nur eine erhöhte Empfänglichkeit für Sinnesreize gegeben ist, sondern diese sich auch gegenseitig durchdringen, so verbinden sich bestimmte Menschen mit bestimmten Farben, auch Töne und Geräusche werden als Farbtöne wahrgenommen – für eine bildende Künstlerin eine denkbar interessante Disposition, die wohl aber auch nicht immer nur angenehm ist.
Denn auch die erhöhte Wahrnehmung und Spiegelung starker Emotionen und ihrer Verarbeitung gehören zur Synästhesie – vielleicht denken Sie mal daran, wenn sie nachher die Porträtzeichnungen der Serie „Pulse 365“ betrachten, das sind die 365 Prominentenporträts.
2013 hat Christine sehr ausführlich in einem Vortrag dargestellt, dass es bei der Betrachtung ihrer Bilder gerade nicht wichtig ist, was sie sich dabei gedacht hat, sondern was der Betrachter darin sieht. Sie lässt uns teilhaben an ihren Inspirationen, die weit über das Feld der bildenden Kunst hinausgehen: Musik und Literatur, Fotografie und Film, seien hier nur als Beispiele genannt. Aus diesem vielfältigen Zusammenspiel, aus bewussten und unbewussten Vorgängen, entstehen Ihre Bilder, Zeichnungen, Fotografien.
Ihren eigenen künstlerischen Anspruch an ein Bild hat Christine in ihrem bereits erwähnten Vortrag so beschrieben:
„Wenn ich z.B. eine Tänzerin male, dann male ich nicht nur das, was sie anhat, sondern verschmelze die Umgebung mit ihr – so dass sie Mittelpunkt meines Gefühls, und im Ausdruck Mittelpunkt meines Bildes wird. So spielt auch die Bewegung hier eine große Rolle- auch wenn das Bild statisch ist, versuche ich, es so darzustellen, dass nicht nur die Tänzerin, sondern das gesamte Bild tanzt.“
Ein Bild zum Tanzen zu bringen, was für ein schöner Gedanke! Aber auch kein geringer künstlerischer Anspruch. Dieser Anspruch zeigt aber auch, das große Zutrauen in die Möglichkeiten der Kunst. Und er verrät etwas darüber, was in der Malerei seit dem Impressionismus alles möglich ist.
Nur eines bleibt dabei im Werk Christine Krämers weitgehend ausgeschlossen: Die gerade Linie.
Abschließend möchte ich noch einen Aspekt betonen, der sich aus dem zuvor Gesagten zwangsläufig ergibt: Kunst kann immer nur dann wirken, wenn sie Rezipienten findet. Bücher müssen gelesen, Musik muss gehört und Bilder müssen betrachtet werden, um eine Wirkung zu entfalten. Ohne einen aktiven Rezipienten bleibt jedes Kunstwerk stumm.
Das meinte wohl auch der britische Popmusiker und Produzent Brian Eno mit seiner Feststellung: “Saying that cultural objects have value is like saying that telephones have conversations.”
Also in etwa: Wenn man behauptet, Kunstwerke hätten einen Wert an sich, könnte man ebenso gut behaupten, Telefone würden Gespräche führen.
Es bedarf des Betrachters, der sich auf das Kunstwerk einlässt, der es sich immer wieder von Neuem erschließt. Und dabei wünsche ich Ihnen allen viel Vergnügen.