Großer Lauschangriff
„Das Ohr – Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen“, so lautet der komplette Titel des neuen Buchs von Paul-Hermann Gruner, in dem er den kleinen Paul auf einer Lichtung ein Ohr finden und, um es zu beschützen, mit nach Hause nehmen lässt. Er redet mit dem Ohr und wundert sich nicht, dass es nicht antwortet, denn Ohren haben natürlich keine Münder …
Gruner bettet seine Geschichte in skurrile Episoden ein, wir erfahren von Ohrenplantagen auf Madagaskar und lernen Pauls Lehrer kennen, einen nachdenklichen Mann, der lieber Fragen stellt als Antworten gibt und sprachliche Ausdrücke ständig auf ihren Wahrheitsgehalt hin abklopft. Weil Paul in das Wort „instinktiv“ immerzu ein zusätzliches „i“ (instinkitiv) mogelt, ermahnt er ihn: „Werfe mit den kleinen i nicht so um dich. Später gehen sie dir dann vielleicht aus, und du hast Problem beim Sprechen. Dann musst du ogottogott sagen, weil igittigitt nicht mehr geht.“
Es sind nicht zuletzt derlei sprachfindige Beobachtungen, die das Buch zu einem außerordentlichen Lesevergnügen machen.
Pauls sprachfindiger Lehrer hilft ihm auch am Ende, das Ohr wieder dorthin zu bringen, wo es hingehört, nämlich genau da, wo Paul es gefunden hat. Es handelt sich nämlich offenbar um ein Ohr, dessen Aufgabe es ist, das Gras wachsen zu hören.
Dass es sich bei der Erzählung um ein Märchen für Erwachsene handelt, merkt man spätestens auf den Seiten 21-25, weil dort ein Traum geschildert wird, der das ohnehin schon verschrobene Geschehen auf eine Metaebene hebt, die eher an Kafka als an die Brüder Grimm denken lässt.
Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Buch von Nicola Koch kongenial illustriert wurde, ihre Bilder von Ohrenbäumen (oder Baumohren?) spiegeln Gruners sprachlichen Duktus auf ganz hervorragende Weise. Das Buch, in dem ein Ohr im Mittelpunkt steht, ist also auch Augenschmaus.
PH Gruner / Nicola Koch: Das Ohr. Ein Märchen für Erwachsene und solche, die es werden wollen. Justus von Liebig Verlag Darmstadt. ISBN 9783873904743. € 24,80